Ich heiße Gertrud. Heute ist der 11. Mai 1994. Es ist ein grauer Tag. Leichter Nieselregen fällt. Ich mache mich auf den Weg in eine ungewisse Zukunft. Wieder einmal, wie
so oft in den vergangenen mehr als 30 Jahren, seit die „Krankheit“ aufgetreten ist, hat sich ein Heim gefunden, das mich aufnehmen will.
Ist es denn eine Krankheit? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur soviel, dass mich niemand haben will. Ich bin allein. Allein mit meinen Gedanken. Allein mit meinen Gefühlen. Da ist niemand, der mich
kennt. Da ist niemand, der mich versteht. Ich bin wieder allein mit meiner Angst.
Allein!
Sie sagen, ich sei schizophren. Bin ich das? Was ist das überhaupt? Selbst die Ärzte wissen nicht, was ich wirklich habe. Wie soll ich das dann verstehen? Soviel weis ich aber, dass sie mir die Arme
ausreißen wollen und die Beine. Manchmal wollen sie mir auch den Kopf abreißen. Aber das will ich nicht. Ich will, dass sie mich in Ruhe lassen.
Mittlerweile liegt meine Vergangenheit im Dunkeln. Ich habe keine Familie, die ich fragen könnte, wann das mit mir passiert ist. Und vor allem wie das passiert ist. Ja, ich hatte noch einen Bruder,
aber auch er war nicht gesund, wie man mir sagte. Ich meine, er ist bereits vor langer Zeit gestorben. Ich bin allein in einer fremden, kalten Welt.
Nachdem die „Krankheit“ diagnostiziert wurde, kam ich in ein Krankenhaus, eine Psychiatrie, wie sie sagten, in Heppenheim. Ich weiß nicht, was das ist. Für mich ist es halt ein Krankenhaus. Dort gab
man mir viele Medikamente. Sie waren der Ansicht, dass ich nicht allein leben könnte. Aber dort bleiben sollte ich auch nicht.
Alle meine Habseligkeiten wurden in einen Koffer gepackt. Mein ganzes Leben passte in einen einzigen Koffer! Ein ganzes Leben in einem einzigen Koffer.
So kam ich in ein Heim. Ich hatte Angst. Niemand verstand mich. Immer dachte ich, dass sie mir meine Arme und Beine ausreißen wollten. Ich wollte mein Zimmer nicht verlassen. Dort hatte ich
wenigstens etwas Schutz und niemand tat mir etwas. Nicht lange, da wussten sie nicht mehr, was sie mit mir anstellen sollten und ich musste zurück ins Krankenhaus. Der Koffer mit all meinen
Habseligkeiten war mein Begleiter.
Sie sagten, ich müsse „neu eingestellt“ werden. Ich bekam andere Medikamente. Aber das dauerte lange, bis es so weit war, dass das Krankenhaus mich wieder entlassen konnte. Doch ich konnte nicht
zurück in das Heim, in dem ich zuvor war. Mein Platz war bereits von anderen belegt.
So wurde ein anderes Heim gesucht. Als es schließlich gefunden war, wurde wieder mein Koffer gepackt. Einige Kleider, in denen mein Name eingenäht war, etwas zur Körperpflege. Es war wirklich nicht
viel. Dort ging es mir aber auch nicht viel besser als zuvor und nicht lange, da war ich erneut im Krankenhaus, begleitet von dem Koffer mit meinen Habseligkeiten.
In den 23 Jahren, die ich jetzt schon allein in diesem Krankenhaus zugebracht habe, ist es mir schon fast wie ein Zuhause geworden. Fast! War ich doch auch dort nur eine von vielen, denen es nicht
besser ging wie mir. Ich weiß schon lange nicht mehr, in wie vielen Heimen ich einmal gewesen bin. Es sind zu viele für mein geschundenes Gemüt.
So bin ich also wieder unterwegs. Was wird morgen sein?
Die Straße windet sich den Berg hinauf. Rechts sehe ich noch hinter einer hohen Mauer die Häuser des Krankenhauses hervorragen, in denen ich mich nun schon so lange aufgehalten habe. Das
Klinikgelände ist zu Ende. Es folgt ein Friedhof, noch ein paar Häuser und wir fahren durch einige Weinberge hinauf in den Odenwald. Bald haben uns die dichten Wälder eingeschlossen.
Über die Juhöhe geht es hinab nach Mörlenbach im Weschnitztal und von dort durch die Wiesen über die Kreidacher Höhe hinab nach Wald-Michelbach. Mit ihren vielen Windungen nimmt die Straße fast kein
Ende. Schließlich erreichen wir den verträumten Ort Heddesbach im Laxbachtal. Wir sind am Ziel.
Ich betrete das Haus Maranatha. All meine Habseligkeiten trage ich in einem Koffer bei mir. Freundlich werde ich begrüßt von dem Herrn, den ich schon im Krankenhaus gesehen habe. Aber das war schon
immer so. Stets wurde ich freundlich willkommen geheißen.
Ich wurde in ein Zimmer geführt und setzte mich auf einen Stuhl. Zwei Betten standen da, also war ich nicht allein. Ich saß da und sah zu, wie meine Kleider aus dem Koffer in den Schrank geräumt
wurden. Das war also mein neues Zuhause. Für wie lange? Wann sind sie endlich fertig mit dem Einräumen? Ich will meine Ruhe haben. Ich will allein sein. Meinen Gedanken nachhängen.
Wie froh bin ich, dass endlich die Tür geschlossen wird. Doch es währt nicht lange, da steht dieser freundliche Herr wieder da und bittet mich zu Tisch. Ja, essen muss ich, also mache ich mich auf
den Weg zu all den anderen fremden Leuten. Ich bekomme nicht viel hinunter. Zu misstrauisch, zu furchtsam bin ich, um mir Zeit zu lassen.
So schnell es geht, ziehe ich mich wieder in „mein“ Zimmer zurück. Hier fühle ich mich sicher. Nun sitze ich tagein, tagaus in einer kleinen Nische hinter meinem Bett. Ich bin froh, dass man mich in
Ruhe lässt. Auch wenn ich eingeladen werde, an einer gemeinsamen Sache teil zu nehmen – nein, ich will nicht. Ob es Spaziergänge sind, ob das Gesellschaftsspiele sind, ob das Erzählen oder Vorlesen
ist.
Auch nach Monaten kann ich mich noch immer nicht überwinden, aus meinem Eck hervor zu kommen. Zum Essen gehen lass ich mir noch gefallen, aber das war es auch schon. Immer wieder höre ich, dass
irgendjemand Musik macht, dass gesungen wird. Vorsichtig mache ich die Tür einen Spalt weit auf. Neugierig bin ich schon, was da los ist. Sobald ich jedoch sehe, dass man mich entdeckt hat, schließe
ich die Tür ganz schnell wieder.
Mehr als ein Jahr ist vergangen, und noch hat mich niemand wieder weggebracht. Sollte es diesmal anders sein, als sonst? Ich bleibe besser misstrauisch. Man weiß ja nie, was noch kommt. Mittlerweile
sind noch einige andere Leute aus dem Krankenhaus angekommen. Einige davon habe ich dort schon gesehen.
Immer wieder sieht der freundliche Herr, den ich zuerst im Krankenhaus kennen gelernt habe - er hat wohl etwas zu sagen in diesem Haus - nach mir. Eines Tages richtet er mir Grüße aus von den
Mitarbeitern im Krankenhaus. Diese haben sich nach mir erkundigt, weil ich nun schon so lange nicht mehr zu ihnen gekommen bin. Sie hätten sich gewundert.
Ich verstehe das auch nicht so richtig, dass er mich nicht schon längst wieder ins Krankenhaus zurück gebracht hat. Das war doch immer so. Ich bin zufrieden, dass man mich in Ruhe lässt. Jetzt bin
ich bereits über zwei Jahre dort. Meine innere Unruhe ist immer noch vorhanden. Wie oft kommt es vor, dass ich laut schreie, sie reißen mir die Arme aus, sie reißen mir die Beine aus. Ich verstehe
das nicht, dass sich die Pflegerinnen davon nicht beeindrucken lassen. Immer bleiben sie freundlich zu mir.
Draußen wird wieder einmal musiziert und gesungen. Ich fasse mir ein Herz und komme aus meinem Zimmer. Nein, ich gehe nicht zu den anderen. Nur bis an die Tür des Aufenthaltsraumes traue ich mich,
schaue kurz um die Ecke, um gleich wieder in mein Zimmer zu gehen.
Aber mir gefällt die Musik.
Eines Tages, ich weiß nicht mehr wann, wage ich es und gehe zu den anderen. Ich höre zu, wie sie singen und musizieren. Das ist schön. Von nun an wird es immer öfter, dass ich mich dazu geselle. Die
Pflegerinnen freuen sich offensichtlich, dass ich aus meinem selbst gewählten Gefängnis hervor komme. Sie laden mich ein, doch einmal mit spazieren zu gehen.
Nein, das will ich nicht. „Ich geh nicht nach draußen!“ ist meine Antwort. Es ist schon genug, dass ich zum Essen aus meinem Zimmer komme und beim Musizieren dabei bin. Die Jahre ziehen ins Land und
immer noch habe ich mich nicht vor die Tür gewagt. Ich habe Angst, nicht mehr zurück kommen zu dürfen. Wie oft ist das schon passiert.
Nun, immer kann ich wohl nicht in meinem Zimmer hocken. Bei schönem Wetter wird der Nachmittagskaffee im Freien eingedeckt. So muss ich wohl auch mit nach draußen, denn darauf will ich nicht
verzichten. Immer häufiger sitze ich nun mit den anderen vor dem Haus. Aber sobald der Kaffee fertig ist, gehe ich schleunigst in mein Zimmer.
Es kommt das Jahr 2000. Für die meisten Menschen ist es wohl etwas Besonderes, weil ein neues Jahrtausend anfängt. Aber mir ist das egal. Und doch, dieses Jahr ist anders. Eine Pflegerin kommt in
mein Zimmer und sagt, dass wir in diesem Jahr in Urlaub fahren. Was das wohl sein mag? Urlaub kenne ich nicht. Hatte noch nie etwas damit zu tun. Soviel merke ich aber – ich muss hier weg. Wie? Ich
darf nicht mehr hier bleiben? Die Angst steigt wieder in mir auf. Mein Koffer – wo ist er nur?
Tagelang wird mir erklärt, dass ich mit den anderen zusammen bleiben werde. Auch der Heimleiter kommt zu mir und erklärt mir, dass wir alle zusammen etwas Schönes erleben werden. Es soll in die
Lüneburger Heide gehen. Ich verstehe nicht, warum ich nicht hier bleiben kann.
Der August kommt und mein Koffer wird gepackt. Im Flur sehe ich viele Koffer stehen. Mein Koffer kommt dazu. Es ist der 23. August 2000. Vor meinem Zimmer ist viel Getriebe. Die Pflegekräfte kommen
zu mir und helfen mir beim Anziehen. Vor dem Haus steht ein großer Reisebus. Alle stellen sich noch einmal davor auf für ein letztes Foto, dann steigen wir ein.
Ja, auch ich bin dabei, wo ich doch eine solche Angst habe, nicht wieder zurück zu dürfen. Mein Koffer ist längst mit den anderen Koffern und Kisten im Bus verstaut. Eine lange Reise beginnt. Was
wird jetzt auf mich zukommen?
Am späten Mittag treffen wir ein in einem anderen Pflegeheim. Dort haben wir unsere Unterkunft in Schneverdingen. Wir haben ein ganzes Haus für uns allein. Die Sonne scheint. Ich mache mir im
Augenblick keine Gedanken. Aber niemals entferne ich mich allzu weit von den anderen.
Einmal fahren wir mit zwei Kutschen in die blühende Heide, ein anderes Mal gehen wir zusammen in ein Kaffee. Etwas ganz Besonderes ist das große Heidefest mit der Krönung der Heidekönigin. Wir haben
einen Platz in der ersten Reihe erhalten, so dass uns nichts davon entgeht.
So schön das alles auch gewesen ist. Ich war froh, als ich wieder zu Hause war. Ich musste tatsächlich nicht wieder zurück ins Krankenhaus. Noch oft kam es vor, dass mich die Angst überkam und ich
wieder schrie. Wenn ich so zurück blicke auf mein Leben – immer dann, wenn mir unbekannte Menschen ins Haus kamen oder auch in mein Zimmer, dann wurde ich unsicher. Ich bekam wieder die alte Angst,
was jetzt wohl auf mich zukommen mag.
Dennoch, ich hatte ein zu Hause gefunden, so schien es mir. Aber die Unsicherheit begleitete mich auch in den folgenden Jahren. Ob ich sie jemals verlieren werde?
Ich weiß nicht mehr, wie oft ich den Heimleiter gefragt habe, ob ich immer da bleiben darf. Wie oft ich gefragt habe, ob ich immer in diesem Zimmer bleiben darf. Und es war mir nicht egal, welche
Antwort ich bekam. Nein! Solange die Antwort nicht war: „Aber selbstverständlich!“ war ich nicht zufrieden. „Ja!“ war keine Antwort für mich. Es war wichtig, dass die Antwort lautete: „Aber
selbstverständlich!“
Manchmal wurde mir auch gesagt, dass ich so lange bleiben kann, wie mein Name an der Tür steht. Ich musste zu meiner Zimmertür gehen und nachsehen, ob mein Name noch dort war. Wie glücklich war ich,
wenn ich ihn vorfand. Schnell lief ich wieder zurück und teilte mit, dass mein Name noch da stand. Könnt ihr verstehen, was das für mich bedeutete? Mein Name an meiner Zimmertür?
Ja, bald nach dem Urlaub in der Lüneburger Heide fand ich auch den Mut, mit den anderen spazieren zu gehen. Am Anfang aber nicht zu oft bitte sehr, es könnte ja sein, dass ich nicht mehr zurück
durfte. Auch war es mir wichtig, mich einhängen zu dürfen. Es ist schlimm, wenn solche Ängste einen umtreiben und man nichts dagegen machen kann. Ja, ich musste nie mehr fort.
Einige Male durfte ich auch mit zum Karnevalsumzug nach Hirschhorn. Die Weihnachtsfeiern erfreuten mein Herz. Was mir aber immer sehr viel Mut und Kraft gegeben hat, waren die Gottesdienste. Nein,
mich musste niemand einladen, ich ging gern dort hin. Auch wenn ich von den Worten nicht viel verstand. Soviel war mir aber klar, dass da jemand ist, der mich lieb hat.
Ist es das, was ich mein Leben lang gesucht habe? Geliebt zu werden? Angenommen werden? Ich kann die Antwort nicht geben. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich da keine Ängste hatte und auch
danach viel ausgeglichener war. Ja, ich lernte sogar das Lachen. Nun bin ich fast siebzehn Jahre hier. Ich fühle mich geborgen. Ich habe ein zu Hause gefunden.
In den letzten Wochen habe ich den Pflegerinnen und auch dem Heimleiter immer wieder gesagt, dass ich keine Schmerzen habe. Aber ich denke, die glauben mir wohl nicht. Sie meinen, dass etwas in
meinem Körper vor sich geht. Sie sprachen mit der Ärztin darüber.
Trotz einiger Untersuchungen wurde nichts gefunden, was auf eine Krankheit hindeutete. Anfang der Woche aber habe ich ganz heftig erbrochen. Mir geht es gar nicht gut. Jetzt ist Donnerstag, der 17.
März 2011. Gestern Abend fühlte ich mich besonders schwach.
Ich bin eingeschlafen und nicht mehr wach geworden. Mein Weg in diesem Leben ist zu Ende gegangen. Jetzt darf ich mich ausruhen von einem langen, bewegten Leben.
Meinen Koffer brauche ich nicht mehr. Ich danke euch, dass ich euch das noch sagen durfte.
© Johannes Paetzold